Studium Hallense e. V. > Publikationen > Protokollband_Vorwort
Sehr geehrte Leser,

Es ist nunmehr einige Zeit vergangen, dass wir im Konferenzsaal der Wittenberger Leucorea im November des Jahres 2009 eine Veranstaltung eröffnet haben, die sich mit der Wesensart und den Hintergründen der hochmittelalterlichen Kolonisationsbewegung auseinandersetzte und den Einfluss, insbesondere der aus Flandern herangeführten Kolonisten, in zahlreichen Beiträgen thematisierte.
Das dreitägige, wissenschaftliche Symposium mit dem Titel: „Von Sinaai nach Jerichow“ – Auf den Spuren der Flamen zwischen Harz und Fläming war hierbei keine autonome Tagung per se, sondern bildete den Abschluss des vom Verein Fläming-Flandern 2009 initiierten Themenjahres, dessen Motivation der 850jährige Nachweis von Niederländern in der Region, aber auch die vielfältigen, hauptsächlich bürgerschaftlich organisierten Aktivitäten in den die Natur- und Kulturlandschaft des Flämings beanspruchenden Landkreisen seit der politischen Wende zu Grunde lagen. Als Frau Lüdecke vom Landkreis Anhalt-Bitterfeld, damals Anhalt-Zerbst, im Frühjahr 2007 an den von uns geführten Verein Studium Hallense herantrat, war kaum absehbar, wie intensiv sich eingebrachte Ideen und Konzepte zur öffentlichen Wahrnehmung des Flämings realisieren lassen würden und wie doch routiniert und professionell die verabredeten Planungen angegangen und umgesetzt wurden. In der Rückschau auf zwei Jahre Vorbereitungszeit sowie ein erfolgreich beendetes Themenjahr können wir uneingeschränkt auf zahlreiche Gespräche zwischen den beteiligten Partnern, interessante Begegnungen und erfolgreiche Kooperationen verweisen, welche die auf das Jahr 2009 verteilten Veranstaltungen mit Leben und Substanz füllten.

Verehrte Leser,
der römische Historiker und Senator Publius Cornelius Tacitus wandte sich einst an seine Landsleute mit der Aussage: „Es ist eine Schande, in der Heimat zu leben und die Heimat nicht zu kennen“. Uns war es im besonderen Maße wichtig den Einwohnern unseres Bundeslandes wie den Besuchern, die wir als Touristen und Partner in Sachsen-Anhalt begrüßen, eine Landschaft und einen historischen Abschnitt seiner Geschichte zu präsentieren, die ihren berechtigten Platz unter den gewachsenen Regionen Deutschlands und Europas einnimmt. Dennoch handelt es sich hierbei um eine terra incognita, die möglicherweise aufgrund ihres bundeslandübergreifenden Charakters meist nur den Verkehrsteilnehmern der Autobahn 9 sowie passionierten Pilz- und Spargelliebhabern bekannt war. Dieses Bild beginnt sich langsam zu ändern, sodass Festlichkeiten wie das Fläming-Frühlingsfest einen weitläufigen Bekanntheitsgrad erfahren und Besucher von nah und fern begrüßt werden können.
Im Kontext der Erarbeitung der hochmittelalterlichen Fläminggeschichte gab es auch für uns Momente, bisher unbekannte Aspekte der Historie zu beleuchten und den bekannten Realien gegenüberzustellen. In diesem Zusammenhang ist besonders herauszustellen, wie umfangreich und komplex sich die heranzuziehende Faktenlage darstellt.
Die hochmittelalterliche Kolonisationsbewegung des 12. Jahrhunderts kann nur als Zäsur verstanden werden. Die Europa zuvor prägenden karolingischen und ottonisch-salischen Strukturen waren dem Zeitgeist der beginnenden Kreuzzugsbewegung nicht mehr gewachsen und mussten von den bestimmenden geistlichen und weltlichen Feudalgewalten reformiert werden. In dessen Verlauf entstanden geistig-kulturelle Konzeptionen und politische Gebilde, die bis in die Gegenwart nachwirken, weswegen zu recht vom „Alten, aber nicht veralteten Europa“ gesprochen werden kann. Übertragen auf den Untersuchungsgegenstand heißt das auf die Kernaussagen reduziert, die Anpassung an demografisches Wachstum und Wandel, Modernisierung von Ökonomie und Wirtschaftsweisen und letztlich Erneuerung der gesellschaftlichen Prägung, die sich durch das neben- und miteinander Leben verschiedener Ethnien kennzeichnet. Die auch den Fläming samt Umland erfassenden Veränderungen können jedoch nicht ausschließlich auf das Wirken potenter Herrschaftsträger wie Erzbischof Wichmann von Magdeburg oder dem Brandenburger Markgrafen Albrecht den Bären zurückgeführt werden, sondern sie waren das Ergebnis des gemeinsamen, ergebnisorientierten Handelns aller Territorial- und Grundherren, gestützt auf einen leistungsfähigen Apparat von Ministerialen sowie den sich entwickelnden Trägern von Handel, Landwirtschaft, Bildung und Gewerbe. Diese Konsolidierung förderte die Durchsetzung auf Münzgeld basierender Wirtschaftsweisen, den Übergang von der Fronhofs- zur Abgabengrundherrschaft und folglich die Verbesserung der landwirtschaftlichen Anbaumethoden und Produktionsmittel. Unmittelbares Ergebnis war die Aufwertung und grundsätzliche Verbesserung der Rechtstellung der feudalabhängigen bäuerlichen Schichten, die nun mittels Privilegien und Entlastungen, eigene Sprache und Rechtsvorstellungen artikulieren und am Modernisierungsprozess teilnehmen konnten. Die Siedlungsbewegung in ihrer räumlichen Erfassung und Überwindung zeugt von der gesteigerten Mobilität der europäischen Feudalgesellschaft. In dieser Kausalkette entstanden die bedeutenden, weite Teile des mittelalterlichen Europas erreichenden Rechtskodifikationen wie der Sachsenspiegel und das entwickelte Magdeburger Recht und damit auch die Strukturen von Stadtgründung und Stadtentwicklung, welche maßgeblich die Siedlungszentren Mitteldeutschlands formten und bis heute prägen.
Vieles wurde im Rahmen des Symposiums verdichtet vorgetragen und veranschaulicht und wer hätte gedacht, dass im Erarbeitungsprozess auch die Grimmschen Märchenfiguren in den Fokus geraten würden. Rotkäppchen ein Kolonistenmädchen in Flamentracht? Schneewittchen, welches wie unser heutiger Veranstaltungsort das niederländische Wort für weiß im Namen trägt oder auch der listige Reinecke Fuchs, der erst durch Johann Wolfgang von Goethe in der deutschen Literatur heimisch wurde. Einige, bisher als sicheres Wissen verwendete Zusammenhänge der Geschichtsbetrachtung konnten jedoch nicht aufrecht gehalten werden. Wider erwarten kann der brandenburgische Ort Brück auf keine Beziehung zur westflandrischen Stadt Brügge verweisen. Das Dorf Brück entstand infolge der Gründung des Zisterzienserklosters Zinna durch Erzbischof Wichmann von Magdeburg (1170), welches mit Mönchen der Zisterzienserabtei Altenberg im Bergischen Land bei Köln bzw. deren niedersächsischen Filiation Mariental bei Helmstedt besetzt wurde. Zu den Besitzungen der Abtei Altenberg gehörte ein Hof im rechtsrheinischen Ort Brück, heute Stadtteil von Köln, der 1166 urkundlich erwähnt wird. Folglich muss davon ausgegangen werden, dass Konversen, Laienbrüder, des Wirtschaftshofes Brück bei Köln zum Stammpersonal des Klosters Zinna gehörten und dem brandenburgischen Brück, ca. 30 km von Zinna entfernt, seinen Ortsnamen gaben.
Verschwiegen darf allerdings ebenso nicht, dass noch viele Fragen ihrer Beantwortung bedürfen und Problemstellungen darüber hinaus vertieft werden müssen. Wie wurden die feudalabhängigen Bauern aus ihrem Grundherrschaftsverhältnissen herausgelöst, wie viele zogen in die Fremde und mit welchen Mitteln warben die nicht nur im Auftrag von Erzbischof Wichmann entsandten Lokatoren Siedlungswillige an? Welche Wege nahmen die Siedler und wie regelten sie die Finanzierung der sowohl auf Land- und Wasserwegen erhobenen Zölle? Welchen Anteil hatten die monastischen Ordensgemeinschaften der Zisterzienser und Prämonstratenser und wie gestalteten sich die Beziehungen im Kontext der Filiationen? Aufgrund der Tatsache, dass archäologische Untersuchungen zur Thematik weitestgehend fehlen, wissen wir zudem wenig über die Organisation der Neusiedlungen oder die Bebauung der landwirtschaftlichen Nutzflächen. Brachten die Kolonisten Werkzeuge und Gebrauchswaren mit oder versorgten sie sich bei den Altsiedelnden, waren es Familien oder Hausgemeinschaften im Sinne der Pegauer Annalen und warum scheiterte der Ansiedlungsvorgang im Fiener Bruch oder dem Bruchland zwischen den Flüssen Bode und Oker? Gab es eine Rückwanderungsbewegung, wie gestalteten sich die Beziehungen zwischen Slawen und Siedlern im Spannungsbogen der Missionierung und wie vollzog sich die Vermittlung des gewachsenen europäischen Kulturerbes im Kontext der eingeleiteten Herrschaftsbildung?

Sehr geehrte Leser, wir sagen es unumwunden, dass es der bisher kaum erfolgten akademischen Thematisierung geschuldet ist und somit künftiger grundlegender, systematischer Erforschung, aber auch der politischen Unterstützung, nicht nur aus den Bundesländern Sachsen-Anhalt und Brandenburg bedarf, um diese komplexen historischen Zusammenhänge zu erfassen, zu hinterfragen und zu veranschaulichen. Hierfür brauchen wir auch die Unterstützung und Beteiligung der bürgerschaftlich Engagierten, wie sie bereits in den bestehenden Kooperationen mit Weitblick realisiert worden sind.
Daher ist es uns eine große Freude, zwei Publikationen zu präsentieren, welche unmittelbar im Kontext des Themenjahres 2009 sowie des wissenschaftlichen Symposiums entstanden und von Studium Hallense herausgegeben wurden. Bereits zum Symposium im November 2009 stellten wir in Zusammenarbeit mit der Stiftung Mitteldeutscher Kulturrat mit Sitz in Bonn den Sammelband mit Aufsätzen des Sprachforschers Dr. Otto Kieser vor. Der Titel lautet: „Niederländische Sprachspuren in Mitteldeutschland. Ausgewählte Beiträge zur Verbreitung von Neerlandica im Fläming und angrenzenden Gebieten.
Mit einer gewissen Erleichterung, da keine Publikation ohne Widrigkeiten entsteht, können wir zudem den Protokollband zum Symposium vorlegen, der alle gehaltenen Grußworte und mit drei Ausnahmen, die teilweise erweiterten Beiträge der Referenten beinhaltet.

Im Namen des Vereins Studium Hallense wünschen wir den geschichtsinteressierten Lesern, aber auch den akademischen Kollegen viele interessante Lektürestunden, angenehme Anregungen zur weiteren Diskussion des Themas und den am Jubiläumsjahr 2009 beteiligten Kooperationspartnern weiterhin viel Erfolg und Resonanz bei den anzugehenden Unternehmungen.
Wir als wissenschaftlicher Forschungs- und Bildungsverein werden weiterhin den Spuren der Flamen, Holländer und Niederländer im mitteldeutschen Raum folgen und würden uns freuen, wenn es in nicht allzu weiter Ferne heißt: Von Sinaai nach Jerichow – Teil 2.